Der Tag, an dem ich meine Erinnerungen verlor….

Es war einmal in Göttingen………
So könnte ein Märchen beginnen. Leider ist das, was ich an dieser Stelle berichte alles andere als ein Märchen. Ich berichte von einem der bittersten Momente, die ein Mensch haben kann.
Von Anfang Juli 1973 bis Ende September 1974 rief mich Papa Staat zum Dienst mit der Waffe.Während der Grundausbildung in Göttingen sollte unser Zug an einem heißen Tag Ende August/Anfang September 1973 mit dem ganzen Gerümpel, was ein Soldat so herumschleppen muss, über die Hindernisbahn. Ein Ausbilder scheuchte uns wieder und wieder drunter und drüber. Bei mir ging das so lange, bis ich zusammenbrach.
Ich bekam nur noch mit, dass ich auf eine Trage gehoben wurde und dann nichts mehr.
Mein bisheriges Leben lief wie ein Film ab. Dann erschien ein grelles Licht in dem alles verschwand — alle Bilder, die vor meinem geistigen Auge erschienen, wurden von diesem grellen Licht aufgesaugt. Irgendwann sah ich verschwommen ein Gesicht über mir und eine Stimme sagte: „Wir haben ihn wieder“. Ich sollte noch einige Zeit liegen bleiben. Dann durfte ich auf meine Stube gehen und sollte mich hinlegen. Am nächsten Tag machte ich wieder Dienst wie gehabt. Niemand sagte mir etwas, niemand betreute mich, niemand schickte mich zu irgendeinem Spezialisten. Ich dachte mir mir anhand des Ausdrucks „Wir haben ihn wieder“, dass ich für einige Zeit weggetreten war, aber die Erkenntnis, dass ich evtl. einen Herzstillstand hatte kam mir erst mit der Zeit.
Einige Tage später konnte ich mich nur noch mühsam an Dinge erinnern, die vor dem „Ereignis“ lagen. Was bis etwa 2-3 Monate davor lag ging noch, aber was weiter zurücklag war weg. Ganz einfach weg.
Fast meine ganze Erinnerung an meine Kindheit und Jugend war weg. Einige Dinge wusste ich noch (meist unangenehme):
— die Prügel während der Grundschule
— die ständigen Hänseleien auf der Realschule
— der Missbrauch mit allen furchtbaren Details
— wer meine Freunde waren
— dass ich Sport in der Schule nie mochte
— einige wenige Begebenheiten aus der Schulzeit
— das Erlebnis einer Radtour mit meinem besten Freund
— und vor allem die Gewissheit, dass ich den „Mann“ nur vortäuschte,
— dass ich mit Beginn der Pubertät an dem Kleiderschrank meiner Mutter war,
— dass ich nur mühselig „männlich“ denken konnte.
Alles Andere war in diesem Lichtstrudel verschwunden und blieb verschwunden. Auch mein Kurzzeitgedächtnis litt darunter. Ich hörte Dinge und konnte schon nach wenigen Sekunden nicht mehr sagen, was ich gehört hatte.
Es war eine furchtbare Situation. Ich weiß nicht, ob irgendjemand nachvollziehen kann, was das für Leiden sind. Ich erwähnte beim nächsten Besuch zu Hause, was mir passiert war. Aber irgendwie konnten, oder wollten meine Eltern nicht begreifen, was da mit mir passiert war. Ich erwähnte das nie wieder. Meinem Freund gegenüber erzählte ich das auch. Und der brachte mich dann mit einer Erzählung auf die richtige Spur.
Er erzählte, dass er von etwas ähnlichem gehört habe und dass die Person beinahe gestorben sei und auch von diesem Licht berichtete. Diese Person litt allerdings nicht unter einem Gedächtnisverlust. Irgendwann in den nächsten Monaten las ich dann in einer Zeitschrift von „Nahtod“. Da wusste ich dann endgültig Bescheid, was da mit mir geschehen war.
Wie ging es mit mir weiter?
Ich machte in Fritzlar, bei meiner Stammeinheit noch eine Zusatzausbildung und den LKW-Führerschein. Sonst war ich für keinen normalen Dienst mehr zu gebrauchen, weil sich in der Folge doch einige Herzprobleme bemerkbar machten. Ich wurde deshalb zu einer Untersuchung in ein Bundeswehrkrankenhaus überwiesen. Die machten einige Tests und EKG’s und gaben mir dann bunte Tabletten, die mir aber halfen.
Etwa 2 Monate nach dem Herzstillstand machten sich einige psychische Veränderungen bei mir bemerkbar. Aus dem Sportmuffel wurde ein begeisterter Sportler. In den Jahren bis 1988 rannte ich, spielte Tennis und Fußball und wanderte an den Wochenenden wie verrückt. Ich wurde aber auch irgendwie ungeduldiger, aggressiver, cholerischer. Damit konnte ich aber gut leben und mit dem Sport sowieso. Mit den fehlenden Erinnerungen nur sehr, sehr schwer.
Wenn jemand was von früher erzählte war ich sehr einsilbig, nickte nur und meinte, dass ich mich daran nicht mehr so genau erinnern könne. Wenn jemand Böses im Schilde geführt hätte, hätte er mir in den Jahren danach eine völlig andere Perönlichkeit verpassen können.
Irgendwie bastelte ich mir einen kleinen Teil meiner Kindheits- und Jugenderinnerungen zusammen und ordnete diese einigermaßen zeitmäßig ein. Es waren aber keine echten Erinnerungen. Manchmal fielen mir zu Erzählungen noch ein paar Details ein. Das war für mich jedesmal ein freudiges Ereignis.
Ab 2006 hatte ich wegen der Dauerschmerzen bei einem Psychotherapeuten Schmerztherapie. Im Laufe der Therapie kamen die Gespräche auch auf das Nahtoderlebnis und dessen seelische Verarbeitung. Die Erinnerungen kamen deshalb trotzdem noch nicht. Ungefähr so ab 2012 tauchten zuerst Bilder in meiner Erinnerung auf, die mich in verschiedenen Situationen zeigten. Ich setzte mich dann jedesmal an den iMac und schrieb alles auf, damit ich das Wenige, was da hochkam nicht wieder verlor.
Eines Tages kamen dann nicht nur einzelne Bilder, sondern ganze Erlebnisse zum Vorschein und ich schrieb und schrieb und……, damit nur ja nichts mehr verloren ging. So schrieb ich mir in mancher Nacht die Finger wund. Manchmal las ich in meinen Erinnerungen und dann fielen mir wieder neue Dinge ein.
Rechtzeitig zu meinem Coming-Out und der ganzen Begutachterei hatte ich die wesentlichsten Erinnerungen wieder beisammen. Selbst jetzt noch fallen mir noch verschwundene Dinge ein.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass 1973 fast nur negative Erinnerungen blieben und die Tatsache, dass sich an meinem Wissen, dass ich mich nicht als Mann fühlte nichts änderte. Eher war es so, dass ich mich weiblicher bewegte, dachte, redete als vorher weil ich schlicht meine Erinnerungen an mein erlerntes, männliches Verhalten verloren hatte.
Diese ganze verfahrene Situation aus fehlender Erinnerung, der Ablehnung meines Körpers, der unbändigen Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit und dem Drang ständig irgendeinen Kick zu bekommen mündete in meinem beschriebenen, selbstzerstörerischen Verhalten mit der Qualmerei, Sauferei, Herumraserei und dazu trotzdem noch teilweise exzessivem Sport. Seltsamerweise besserte sich meine Gesundheit so, dass ich irgendwann keine Herztabletten mehr brauchte.
Eure Emma

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