Diese Tage bin ich 65 Jahre geworden. Meine Mutter meinte ich sei nun ein altes Mädchen. Das soll aber nicht das Thema dieses Artikels sein.
Seit jetzt 65 Jahren existiere ich nun als Untermieter von Karl-Heinz. Und das sollte ich nach einer so langen Zeit einmal würdigen.
Karl-Heinz gab mir 65 Jahre lang Schutz. Er sorgte für mich, beschützte mich und gab mir auch sonst alles, was ich zum Leben brauchte. Wir teilten Freude und Leid. Karl-Heinz war immer ein liebevoller, einfühlsamer aber auch, wenn es sein musste, kämpferischer Mensch. In seiner Kindheit und Jugend musste er wegen mir sehr viel Spott und Prügel einstecken. Das hat Karl-Heinz aber nicht zerbrochen, sondern nur noch stärker gemacht. Nur, ich bereitete ihm manche Probleme. Ich hatte oft das Bedürfnis aus meinem Versteck zu treten und selbst die Kontrolle über Karl-Heinz zu übernehmen. Das überforderte ihn aber jedesmal, sodass ich im letzten Moment einen Rückzieher machte.
Karl-Heinz war ein Testosterongesteuerter Mann und das Großhirn war bei ihm zwischen den Beinen angesiedelt. Er versuchte — ich weiß nicht, wie oft — eine Freundin zu bekommen. Da kam ich aber ins Spiel. Ich hatte von den Eltern mitbekommen, dass sich Homosexualität nicht gehört und funkte jedesmal gehörig dazwischen. Darauf wurden eventuelle Beziehungen schnell beendet. Es tat mir ja Leid um Karl-Heinz, der dann jedesmal am Boden zerstört war, ich konnte aber damals noch nicht anders. Das änderte sich aber mit der richtigen Frau und wir hatten noch viele schöne Stunden.
Karl-Heinz war immer fleißig und wenn er ein Ziel vor den Augen hatte verfolgte er es meistens beharrlich. Er war immer etwas aufsässig und hinterfragte Anweisungen, Erkenntnisse, den Sinn und Zweck von irgendwas und auch den Sinn des Lebens. Er diskutierte auch leidendchaftlich über die genannten Dinge, wenn er anderer Meinung war. Karl-Heinz war eher ein Rebell als ein angepasster Bürger unseres Staates. Vor allen Dingen rebellierte er gegen die Vorstellungen unserer Eltern. Er ließ die Haare wachsen und kämpfte da um jeden Zentimeter, bis die Haare schulterlang waren. Er hörte gerne Rockmusik, vor allem Hardrock und das meistens ziemlich laut. Er zog sich auch irgendwann nach der damaligen Mode an — tailierte, bunte Hemden; an den Hüften knallenge und unten ganz weite Hosen und enge, spitze Schuhe mit Absätzen. Dazu eine schwarze Bomberjacke.
Schon als Karl-Heinz mit dem Fahrrad unterwegs war, reichte es ihm nicht ein normales Fahrrad zu besitzen. Eines Tages musste da ein Rennlenker dran — aber umgekehrt montiert, damit es auffiel und noch eine Laufklingel und noch etwas Chromzierat. Später bei den Autos reichte ein VW Käfer nicht — den fuhr ja jeder. Das erste Auto war ein NSU 1000C mit offenem Ansaugtrichter auf dem Vergaser und offener Motorhaube und den breitesten Reifen die zugelassen waren. Der Lärm, den dieses Auto produzierte war infernalisch — aber Hauptsache Auffallen. Die folgenden Fahrzeuge waren auch nicht gerade von Vernunft geprägt — ein Renault 16 von 1968 und ein Audi 100S von 1971. 1978 wollte er dann vernünftig sein…… Er kaufte einen neuen VW Passat, aber irgendwie ging dann doch der Gaul mit ihm durch — anstelle des Diesels musste es dann doch die damals stärkste Ausführung sein. In den nächsten 6 Jahren war der Kerl, der ja eigentlich ein braver und umgänglicher Mensch war, extrem testosterongesteuert. Er war aggressiv, für vernünftige Argumente nicht mehr zu haben, fuhr mit dem schnellen Auto wie ein Henker, soff wie ein Loch, rauchte 60-80 Zigaretten am Tag und kloppte nur noch dumme Sprüche — ich hätte manchmal kotzen können. Für mich war das eine furchtbare Zeit. Irgendwie kam er dann doch wieder zur Vernunft. Er verkaufte die Krawallschüssel und kaufte das Nachfolgemodell als Diesel. Anstelle von Rasen war jetzt endlich Reisen angesagt.
Karl-Heinz besuchte zweimal die Fachoberschule, dazwischen rief Papi Staat nach ihm. Beim ersten Besuch hatte er in der Matheprüfung einen kompletten Blackout, beim zweiten Besuch schaffte er die Prüfung konnte aber trotzdem nicht studieren. Also fing er an Geld zu verdienen. Viel konnte er von dem immer guten Verdienst nicht zurücklegen, da er ein Leben auf der Überholspur führte. Nach außen hin wollte er als echter Kerl wahrgenommen werden. Nur im engsten Freundeskreis war Karl-Heinz lockerer. Da konnte ich manchmal ein wenig in Erscheinung treten. Das Leben auf der Überholspur mündete in eine fatale Abhängigkeit von Psychopharmakas. Er war überhaupt nicht mehr er selbst und ich war selbst benebelt und konnte nicht helfen. Im Winter 1983 war ein Freund bei uns und der ließ nicht locker, bis Karl-Heinz die Tabletten in der Toilette runterspülte. Dann folgten 3 Wochen kalter Entzug — oh Graus, war das hart. Aber Karl-Heinz schaffte das mit seiner Beharrlichkeit. Sonst änderte sich nichts.
Es ist eigentlich unglaublich, was ich diesem armen Kerl manchmal für Schwierigkeiten bereitete. Manchmal drängte es mich mitten in einer fröhlichen Gesellschaft dazu mich zu outen. Mit Ach und Krach konnte Karl-Heinz dann das Ruder herumreißen. Die Zeit war dafür noch nicht reif. Ich denke, ein Outing in den 1980ern hätte mit Sicherheit in der Psychiatrie geendet. Man hätte uns für völlig bescheuert und schizophren gehalten. Das wollte dann doch niemand.
1987 hatte ein Umdenken bei mir eingesetzt — ich hatte jetzt nichts mehr gegen Homosexualität, weil ich merkte, dass ich auf selbst Frauen stehe. Deshalb gab es keine Hindernisse, dass wir uns in unsere Ehefrau verliebten. Wir heirateten im Jahr darauf und die Ehe hält bis Heute. Zum Ende 1991 verlor Karl-Heinz einen gut bezahlten Job in Frankfurt. 1992 überlegte ich dann, ob ich mich outen solle. Das Ganze endete dann in den bekannten Schmerzen und dem Delirium mit den Schmerzmitteln. Armer Karl-Heinz — was er da aushalten musste……
Ich war selbst wie in einem Nebel und bekam kaum etwas mit. Eines Tages muss ich in meinem Delirium unbemerkt angefangen haben bei Karl-Heinz die Kontrolle zu übernehmen. Unter Anderem auch über den Hypothalamus und deshalb auch über die Hirnanhangdrüse. Es gab Veränderungen am und im Körper von Karl-Heinz wie bei einer gegengeschlechtlichen Hormontherapie, die aber erst viele Monate später begann. In der Folge outete ich mich mit einem Donnerschlag. Seitdem bin ich ICH und nicht mehr eine Mieterin in Karl-Heinz
Mit der Hormontherapie begann der Umbau von seinem Körpers erst richtig und zum Abschluss wird er noch seiner Männlichkeit beraubt. Aber DIE brauche ich als Frau nun wirklich nicht.
So nehme ich denn Abschied von Karl-Heinz, der mir 65 Jahre eine solide Wohnung bot.
Eure Emma